Eigentlich stand er nicht auf der To-do-Liste. Der Seitensprung. Als die Liebe im Leben noch bloße Theorie war nicht, und auch nicht, als sie während der Beziehung in die Jahre kam. Aber dann passiert es doch. Eines Tages. An dem Abend, an dem man mit ihr und anderen Kollegen im Büro den Abschluss eines Projektes feiert. Man ruft zu Hause an, dass es später wird. Trinkt. Lacht. Flirtet. Und sie flirtet zurück. Berührt sich. Hat sie ihn in letzter Zeit nicht immer einen Augenblick zu lange angesehen? Ihn im Vorbeigehen gestreift, obwohl Platz für zehn war? Er ist richtig gut drauf. Fühlt sich so seltsam frei. Will die Stimmung konservieren. Als der Wein ausgeht, ziehen beide weiter in eine Kneipe. Er möchte sie küssen, sie macht den Anfang. Sie landen bei ihr. Kein Klischee, denkt er, sondern „das hab ich mir verdient“. Das Handy steht auf lautlos, das Gewissen auf standby. Um drei Uhr früh fährt er nach Hause zu seiner Freundin.Aber er wird wiederkommen.
In dieser kleinen Geschichte hätten die Rollen auch andersherum verteilt sein können. Männer gehen fremd. Frauen auch. Der aktuellen
„Vertrauen ist doch das A und O in einer Beziehung“
Simon Werner, 29, Malermeister: „Nach einem Seitensprung kostet es viel Kraft und Zeit, dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Ich bin seit 13 Jahren in einer Beziehung und treu. Zwar würde ich meiner Freundin einen Seitensprung verzeihen, hoffe aber, dass ich es nicht irgendwann mal muss.“
Statistik nach ist ein Seitensprung keine Frage des Ob, sondern des Wann – jeder beziehungsweise jede zweite soll es im Laufe des Lebens einmal tun, mindestens. Die Spielregeln sind klar: Die Affäre hat ein Verfallsdatum, und sie findet außerhalb der Öffentlichkeit statt. Das Motto lautet:Wir wollen doch nur spielen, wir tun doch nichts. Hört man sich mal persönlich um, scheint der Seitensprung derzeit gesellschaftsfähiger zu sein als eine Schönheits-OP. Jedenfalls wird er unter vier Augen bereitwilliger zugegeben. Suse* liebt den Kitzel des Neuen, sagt, sie spüre sich dann intensiver. Gerd erklärt: „Wenn ich zwei Frauen gleichzeitig habe, muss ich mich nicht binden“, und genau das wolle er zurzeit nicht. Alexandra leidet darunter, dass ihr Freund kaum noch Sex haben will. Den holt sie sich bei ihrem Chef und dazu noch Orgasmen, von denen sie, wie sie sagt, bisher nur geträumt habe.
„Ein Seitensprung kann passieren, deswegen muss nicht gleich die Beziehung in die Brüche gehen“
Susanne Karlink, 27, Chirurgin: „Ich finde, es kommt immer drauf an, mit wem und unter welchen Umständen der Partner fremdgegangen ist.“
Sind wir jetzt zu einer Gesellschaft von gefühllosen und amoralischen Beziehungsbetrügern mutiert? Nein, können wir schon mal aufatmen. Das gängige Partnerschaftsideal, so bestätigen Psychologen einhellig, ist immer noch die langfristige Beziehung, die uns Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen auf beiden Seiten garantiert und die im Alltag funktioniert. Aber wo sich Routine einschleicht, da gehen Spannung und Abenteuer verloren. Wo zum Teufel ist nur das Kribbeln geblieben? Die Neugier auf den anderen lässt nach, denn wir glauben ja, schon alles von ihm zu kennen. Manchmal taucht er dann auf, der Gedanke, alltägliche Verpflichtungen einfach mal abzuschütteln. Freiheit zu spüren. Manchmal möchten wir uns auf einer Party die Frage beantworten „Kann ich ihn noch kriegen, den coolen Typen dort an der Theke?“, „Habe ich Chancen bei der Blonden da drüben?“ Manchmal werden wir schwach. Und sind einfach widersprüchlich. Denn 80 Prozent der Deutschen, die vom Institut für Psychologie der Georg-August-Universität Göttingen befragt wurden, gaben an, ihren Partner zu lieben, treu sein zu wollen. Und gingen trotzdem fremd, 60 Prozent mehrfach.
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So wie Barbara. Mit Mark ist sie zusammen, seit sie 17 war, mit 24 hat sie ihn geheiratet. Jetzt ist sie 31. Barbara fand es romantisch, früh zu heiraten. Er war ja ihre große Liebe, worauf also warten? Im Lauf der Jahre hat sie festgestellt, dass ihre Freunde ganz anders leben als sie. Sie sind mal Single, haben mal einen One-Night-Stand, mal tauschen sie eine Beziehung gegen die nächste. Sie alle haben viel mehr Erfahrung als sie. Mark war Barbaras erster und bislang einziger Mann. Plötzlich hatte sie das Gefühl, etwas zu versäumen, etwas nachholen zu müssen. „Ich habe es nicht vorsätzlich geplant“, sagt sie, „aber ich merkte, dassich offener für andere und für Flirt-Experimente wurde.“ Dann lernte sie Ralf bei einem Jobtermin kennen. Es war so einfach. Seit zwei Monaten ist er ihr Geliebter. Mal sei sie ein bisschen verliebt in ihn, sagt Barbara, mal möchte sie Schluss machen, weil es doch nicht passt. Aber dazu kann sie sich nicht durchringen. „Ich möchte was erleben. Wann, wenn nicht jetzt?“, resümiert sie.
Gehen wir also mitunter fremd, weil wir mithalten wollen? Weil es alle tun? „Durch die sexualisierte Berichterstattung in den Medien entsteht die Vorstellung, die da draußen haben dauernd supertollen Sex, bloß man selbst nicht“, erklärt die Psychologin und Paartherapeutin Felicitas Heyne. „Das erzeugt einen immensen Druck.Denn wenn im Schlafzimmer nicht die Post abgeht,muss man sich das woanders holen, sonst kommt man zu kurz.“ Das führe zu Optimierungswahn und sei eine super Basis für Seitensprünge, so die Expertin.
In guter Gesellschaft sind wir ja schließlich. Was wir bestens aus Filmen wie „Hautnah“, „Eyes Wide Shut“ oder „Untreu“ meist abschreckend als Drama kennen, spielt uns Hollywood auch privat vor. Jude Law etwa gehört offiziell zum Club. Olivier Martinez. Hugh Grant. Auch Politiker: Bill Clinton, Silvio Berlusconi, Horst Seehofer. Ihre Fehltritte wurden genüsslich in der Klatschpresse breitgetreten, als peinlich wurde, was doch heimlich bleiben sollte. Prominente Frauen dagegen scheinen schwieriger zu enttarnen. Ein seltenes Beispiel: Denise Richards soll Heather Locklear den Mann ausgespannt haben. Jetzt sind beide Paare geschieden. Manche Stars schützen sich sogar vorsorglich per Ehevertrag: Der bekennende Ex-Sex-Junkie Michael Douglas und Gattin Catherine Zeta-Jones müssen mehrere Millionen löhnen, wenn sie sich gegenseitig betrügen. Dabei scheint gerade Reichtum den Reiz am Seitensprung zu erhöhen. Laut einer aktuellen US-Studie praktizieren ihn 53 Prozent der befragten Millionäre und 73 Prozent der Millionärinnen regelmäßig.
„Ein Seitensprung wäre okay. Denn die Beziehung bedeutet für mich Geborgenheit, ein Seitensprung ist nur Sex“
Thomas Ernst, 35, Ingenieur: „Ich bin seit fünf Jahren mit einer Frau zusammen und ihr treu. Doch ich würde ihr einen Seitensprung verzeihen.“
Tatsächlich ist auch für die weniger Betuchten unter uns sexuelle Unzufriedenheit einer der wichtigsten Gründe, außerhalb der Beziehung zu wildern,wissen Psychologen und Therapeuten. Das trifft für Frauen sogar noch mehr als für Männer zu. Der Fehler vor dem Fehltritt ist meist der, dass keiner der Partner die Flaute im Ehebett anspricht. Kein Wort über die eigenen Bedürfnisse, keine Fragen, was sich der andere wünscht. Das nagt am Selbstbewusstsein. Bestätigung sucht man sich dann eben woanders. In 600 Interviews zum Thema Fremdgehen hat die Seitensprung-Expertin Ingrid Weichelt herausgefunden: „Männer sind in erster Linie auf der Suche nach Sex und Erotik. Sie haben Lust auf den Reiz des Neuen. Frauen dagegen sehnen sich besonders nach dem Gefühl, wieder begehrt zu werden. Sie wollen die Schmetterlinge im Bauch wiederbeleben.“ Michael Mary, Psychologe und Autor des Buches „5 Lügen, die Liebe betreffend“ (Lübbe, 7,90 Euro) geht einen Schritt weiter. „Oft sind die Partner in der Beziehung so abhängig voneinander geworden, dass ein Seitensprung quasi die Rückeroberung der Selbstbestimmung bedeutet.
„Einige Male bin ich fremdgegangen, mein Freund auch, obwohl er es nicht zugibt“
Marta Rogowaska, 26, Germanistik-Studentin:
„Die Seitensprünge haben sich so ergeben, ich habe da nicht groß drüber nachgedacht. Doch jetzt habe ich beim Fremdgehen meinen Traummann kennen gelernt. Mal sehen, wie es weitergeht.“
Nach dem Motto: So sehr brauche ich dich auch nicht, es gibt auch andere, die bereit sind, mich zu lieben.“ Insgesamt sei der Seitensprung „eine massive Form nonverbaler Mitteilung, in dem Sinne: Mir fehlt etwas. Mir passt etwas nicht.“
Beispiel: Christian, 33. Er ist seit zweieinhalb Jahren mit Andrea zusammen. Wirklich harmonisch ist die Beziehung nicht. Andrea ist einfach mehr verliebt in ihn als Christian in sie. Er begann eine Affäre. Sie ertappte ihn, verzieh ihm, wollte ihn nicht verlieren. Er blieb. Jetzt ist Andrea schwanger. Das war nicht geplant, und Christian fühlt sich hintergangen. Klar steht er zu dem Kind, bleibt bei Andrea, das ist für ihn selbstverständlich. Dafür hat er zu viel Verantwortungsgefühl.
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Aber die Affäre lässt er nebenbei weiter laufen. Warum? „Weil ich mir einfach etwas Verbotenes gönnen will. Weil ich diesen Rest Freiheit behalten will“, sagt Christian. „Und weil ich von dieser anderen Frau Dinge im Bett bekomme, die mir Andrea nicht gibt.“ Psychologen bestätigen: Der Seitensprung kann die feste Beziehung stabilisieren, kann sie vom Erwartungsdruck befreien.
„Fremdgehen kommt für mich nicht infrage“
Jessica Eichmann, 32, Notarfachangestellte: „Und das erwarte ich auch von meinem Freund. Meiner Meinung nach läuft doch irgendetwas falsch, wenn sich einer der Partner einen Seitensprung erlaubt. Ich bin selbst betrogen worden und habe mir geschworen, das nie hinzunehmen.“
Was vom Partner nicht befriedigt wird, holt man sich eben in der Außenbeziehung. Fremdgehen als Beziehungskitt. Kann das wirklich funktionieren? „Die Wurzel des Übels in der bestehenden Beziehung bleibt erhalten“, schränkt Felicitas Heyne ein. „Und so kann es zum nächsten Seitensprung kommen.“ Denn wenn es mit einer Affäre einmal geklappt hat, ohne erwischt zu werden, sinkt die Schwelle, es noch einmal zu tun. Selbst Suchtgefahr nach dem ewig neuen Kick schließen Experten nicht aus.
Da wären wir also wieder beim Sex. Fremdsex gönnen Männer zwar sich selbst, aber US-Psychologe David Buss fand in Studien heraus: Nichts fürchten sie mehr als sexuelle Untreue der Partnerin. Eine evolutionsbiologische Erklärung vermutet Buss in der tief verwurzelten Angst vor Kuckuckskindern. Schließlich kann der Mann nie sicher sein, ob der Nachwuchs auch wirklich von ihm stammt. Untersuchungen konnten sogar nachweisen, dass Spermien auf eine Zahl von 500 Millionen steigen, wenn er nicht weiß, was seine Partnerin seit dem letzten gemeinsamen Sex so getrieben hat. Auf diese Weise erhöht sich nämlich die Chance, die Spermien des Nebenbuhlers noch ins Abseits zu drängen. War die Frau dagegen ständig an seiner Seite, machten sich nur 100 Millionen auf den Weg.
Dank des Internets jedenfalls haben sich die Seitensprung-Optionen für beide Geschlechter erheblich vergrößert. Dutzende von Agenturen bieten überwiegend kostenpflichtige Vermittlungsangebote. Vorteil: geringer Aufwand, erst einmal eine anonyme Identität und klare Verhältnisse. Pragmatischere Menschen vermutet die Psychologin Felicitas Heyne hinter denen, die hier wildern wollen. „Solche, die die Sache etwas weniger romantisch, sondern erfolgsorientiert angehen.“ Und die sich darauf verlassen wollen, dass die Gegenseite auch nur eine Affäre und nicht die Liebe fürs Leben sucht. Damit im weiteren Verlauf garantiert nichts auffliegt, bieten Alibi-Agenturen wie die von Stefan Eiben (www.alibi-profi.com) ihre Dienste an. Etwa die Hälfte der Kunden, so sagt er, wollen Seitensprung-Alibis, Männer wie Frauen. Und das sieht dann so aus: Der Kunde erhält per Post eine fingierte Einladung etwa zu einem mehrtägigen Seminar, während er sich in Wirklichkeit mit seiner Geliebten vergnügt. Zusätzlich kann er eine Telefonnummer buchen, unter der die Partnerin anrufen kann. Eine Dame der Alibi-Agentur sagt dann, dass der Gatte in einer Besprechung sei. Ruft er später zurück, gibt es zur akustischen Untermalung Flughafen-, Bahnhofs- oder Büro-Atmo – auf Knopfdruck nach Wahl.Moralische Bedenken haben die Betreiber keine, das müssen die Kunden schon selbst verantworten. Aber geht das überhaupt? Können wir immer absehen, auf welchen Pfad wir uns da begeben? Thorsten B. aus Düsseldorf wohl nicht. Im Januar hat seine Frau per Anzeige in einer Tageszeitung mit ihm abgerechnet. Der Text lautet: „Danke für deinen außerehelichen ,Firmenunfall‘. Danke für deine Lügen. Deine Noch-Ehefrau und deine drei Kinder.“ Das Inserat hat rund 90 Euro gekostet. Der Seitensprung noch viel mehr.
Zum Schluss bleibt zudem immer ein „Restrisiko“, sich doch mal fremd zu verlieben, und dabei Hämatome auf der Seele zu holen. Vielleicht hätten wir dann Annett Louisan vorher besser zuhören sollen: „Dass du wegen mir irgendwen verlässt, dass du manchmal weinst. weil es dich verletzt. Dass du dich verliebst,weil du’s mit mir tust. Dass es dich so trifft, hab ich nicht gewusst. Es war nie geplant, dass du dich jetzt fühlst.Wie einer von vielen.“ Sie will eben nur spielen, sie tut doch nichts.
Sabine Franz
*Alle Namen geändert