Unperfekthaus

Reinhard Wiesemann ist aufgeregt. „Ich habe heute Morgen die Schlüssel bekommen“, ruft er schon von weitem, „lassen Sie uns gleich mal rübergehen.“ Unser Ziel: ein leer stehendes Bürohaus an der Viehofer Straße. Mit dem Norden der Essener City ging es in den vergangenen Jahren ziemlich bergab: ein Bahnhofsviertel ohne Bahnhof. Doch Anrainer und private Investoren werkeln an Plänen, wie die Szenerie aus Afrikashops, Billigimbiss und leeren Ladenlokalen aufpoliert werden kann. Die Nachricht von Wiesemanns neuem Projekt ist da ein Meilenstein.

Mit seinem Unperfekthaus realisierte Wiesemann 2004 eine deutschlandweit einmalige Idee: eine Villa Kunterbunt für Künstler und Kreative, die 2010 erstmals schwarze Zahlen schreiben könnte. Das neue Generationen-KultHaus ist als Ergänzung geplant – allerdings ohne den öffentlichen Charakter des Kreativquartiers. Leben und Arbeiten stehen im Vordergrund, auf zwei Etagen gewürzt mit eigenwilligen Co-Working-Ideen: eine Panorama-Terrasse mit Außenschreibtischen, eine Rutsche von einem Stockwerk zum anderen, eine überdimensionale Gießkanne als Konferenzraum. Auf den drei mittleren Etagen werden 24 Apartments für Senioren entstehen. „Die Mieter sollten allerdings im Herzen jung geblieben sein“, so Wiesemann. Eine weitere Etage ist für Studenten reserviert.

Für günstige 860 000 Euro ersteigerte er die insgesamt 2 500 Quadratmeter große Immobilie, einen ähnlichen Betrag wird er zusätzlich hineinstecken müssen. „In sechs Monaten soll das Haus bezugsfertig sein“, verrät stolze Besitzer, der jetzt oben auf der Dachterrasse steht. Der Blick über die Giebel der Stadt ist traumhaft. Am Horizont: der Förderturm von Zollverein. „Die Interaktion zwischen Jung und Alt wird im Mittelpunkt stehen“, erklärt der 50-Jährige und schwelgt in Beispielen: Vielleicht kümmert sich ein pensionierter Buchhalter um den Papierkram der jungen Kreativen. Und die Energie der Jungen lässt im Gegenzug auch die Senioren weiter mitten im Leben stehen. Der Mann, der mit 18 Jahren in Wuppertal die IT-Firma W&T gründete und so viel Geld verdiente, dass er heute nicht mehr arbeiten muss, gibt sich in der Rolle des Urban Angels verblüffend bescheiden. Weit lieber redet er über seine Ideen: Hier aufs Dach möchte er einen Wintergarten aufsetzen, „mit offener Küche und Supermarkt-Konzept in den Regalen: Es ist immer alles da und kann per Chipschlüssel gekauft werden.“

„Andere erfinden Technologien. Ich bin ein Sozialerfinder“, sagt Reinhard Wiesemann dann doch über sich. Und weil er die Praxis auf die Theorie folgt lässt, gehört er zur im Ruhrgebiet eher seltenen Spezies der „Social Entrepreneurs“. So nennt man im angelsächsischen Raum Vordenker, die innovative unternehmerische Lösungen für drängende soziale Probleme finden und umsetzen. Doch wie funktioniert es – das System Wiesemann? „Ich lasse mich dauernd inspirieren“, sagt er. Das Google Office in Zürich liefert ihm einige Impulse, aktuelle Trends wie Urban Gardening sollen integriert werden. Mancher Geistesblitz funktioniert, anderes floppt, vieles geht erst einmal seinen Weg. Und der zugrunde liegende Business-Plan? Wiesemann schaut, als habe man etwas völlig Verrücktes gefragt: „Wie soll das denn gehen – bei Dingen, die noch niemand zuvor gemacht hat?“

Wie das Unperfekthaus, mit dem der Unternehmer 2007 den Deutschen Kulturpreis gewann. Das einzigartige Konzept: Man nehme ein leer stehendes Bürogebäude, saniere es und lade alle ein, die Freiraum für ihre Ideen benötigen. Heute hängen in der holzvertäfelten Beichtkapelle des ehemaligen Franziskanerklosters Pin-up-Mädchen in Öl. Auf jeder Etage werkeln Künstler. Und die Tagungsräume sind durch Firmen und Festgesellschaften ausgebucht. Dass es hier trotzdem nicht wie in einem wildgewordenen Kinderladen zugeht – dafür sieht Wiesemann sich als Inhaber in Pflicht und Verantwortung: „Letztlich entscheide ich, was passiert.“ Doch bis zum Machtwort führt meist ein weiter Weg.

Zurück beim abendlichen Workshop zum „GenerationenKultHaus“. Gemeinsam mit Besuchern spinnt der Vordenker an neuen, manchmal absurden Ideen. Es geht antiautoritär, auch anarchistisch zu. „Ich möchte möglichst wenig selbst regeln“, sagt er, „denn hier soll ein neues Miteinander entstehen.“ Die Grundrisse für Zimmer und Wohnungen schneidet er deshalb klein: Das Leben spielt sich in den Gemeinschaftsräumen ab. Und all die, die noch schaffen müssen, sollen den schönsten Arbeitsplatz der Stadt erhalten. Aber natürlich verbindet Wiesemann auch ein ganz persönliches Interesse mit diesem Projekt: „Je früher man sich überlegt, wie man als Senior leben möchte, desto besser wird man es später haben“, sagt er. Da darf er nur nicht vergessen, sich im neuen Haus auch eine eigene Wohnung zu reservieren.

Jan Wilms

Vermietung: Feiern im Künstlerhaus zwischen Wintergarten und Kleinkunstbühne. Preis: Getränkepauschale von 22,50 Euro/Person (ab 50 Personen).

Unperfekthaus
Friedrich-Ebert-Str. 18
45127 Essen
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Map data © OpenStreetMap contributors, CC-BY-SA
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