Rotlicht-Chic und Kneipen-Flair

Morbide Atmosphäre und kreative Hot-Spots: Zwischen Gustav-Siegle-Haus und Wilhelmsplatz entwickelt sich seit Jahren ein fruchtbarer Mix aus Halbwelt und Szene. Da muss man einfach mal vorbeischauen…

Morbide Atmosphäre und kreative Hot-Spots: Zwischen Gustav-Siegle-Haus und Wilhelmsplatz entwickelt sich seit Jahren ein fruchtbarer Mix aus Halbwelt und Szene. Da muss man einfach mal vorbeischauen…

LEO STATT THEO: DAS LEONHARDSVIERTEL HAT SEINEN GANZ EIGENEN CHARME

Was ihm hier am besten gefällt? „Man ist nie allein auf der Straße, es sind immer nette Damen in Reichweite.“ Robin Hofmann grinst ein wenig, aber er hat Recht: Mit seinem Label Pulver Records residiert er mitten im Leonhardsviertel, auf Stuttgarts sündiger Meile also. Die ist zwar nur gut 100 Meter lang, hat dafür aber mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick erwartet – und käuflicher Sex ist dabei nur ein Part unter vielen. Drohte das Viertel rund um die namensgebende Leonhardskirche zeitweilig völlig in der Trostlosigkeit zu versinken, tun sich in jüngster Vergangenheit spannende Dinge, die geneigt sind, das durchaus charmante Viertel auch in den Augen einer weniger halbseidenen Klientel attraktiv erscheinen zu lassen. So sieht es eben auch Robin Hofmann: „Mir gefällt die Mischung aus Schmuddeleck und Szene Hotspot.“ Dazu trägt mittlerweile auch das im Gustav-Siegle-Haus beheimatete Bix bei. Der mit großzügiger Unterstützung der Stadt renovierte Jazzclub bringt sophisticated Flair zurück ins Viertel, sorgt mit allabendlichen Konzerten für Leben. Joe Bauer, Kolummnist der „Stuttgarter Nachrichten“ mit großem Herz für den morbiden Charme des Leonhardsviertel, lädt hier am 23. Oktober zum „Flaneur-Salon“, Jazz-Größen wie Lilly Thornton stehen ebenfalls regelmäßig auf der Bühne. Und seit in der gleich um die Ecke liegenden Kiste, der früheren Heimstätte des Stuttgarter Jazz, vermehrt Rock’n’Roll- und Punk-Rock-Konzerte abgehen,wird’s auch wieder bunter auf den Straßen. Zudem zieht’s dank Galerien wie dem GEZ, dem Kunstraum oder fluctuating images vermehrt junge Künstler ins Quartier. Laut Holger Lund, Kurator für fluctuating images, sucht gerade Kunst schon immer die Nachbarschaft des Gewerbes: „Die Pariser Avantgardisten um Picasso arbeiteten Anfang des 20. Jahrunderts ja auch nicht im 16ième Arrondissement, sondern im Montmartre Viertel, Moulin Rouge-wärts. Dort war’s schließlich billiger zu leben als überall sonst…“ Teilweise trifft das eben auch aufs Leonhardsviertel zu – zumindest die Mieten sind unschlagbar günstig. Holger Lund schmunzelt. Ihm fällt noch ein anderer Grund ein, warum er gern im Viertel ist: „Mit unserer Medienkunst liegen wir konstant im Wettbewerb mit den beiden Außenmonitoren des Table-Dance-Schuppens ‘Four Roses‘.“

Denn natürlich macht auch das den Reiz des Quartiers aus: Striplokale, Animierbars, Stundenhotels, käuflicher Sex. All das kennt „Würschtles-Jürgen“ wie kaum ein anderer. Seit Jahrzehnten steht er Abend für Abend im Imbiss „Zum Brunnenwirt“ und schiebt „Curry Spezial, aber scharf“, Schaschlik, Fleischküchle oder einfach Pommes und Rote über den Tresen. Bei ihm haben schon alle gegessen: Die Prostituierten, die Freier, die Zuhälter, die Nachtschwärmer. Anstehen muss hier jeder, soziale und kulturelle Unterschiede gibt es beim ihm nicht. Auch nicht auf der anderen Seite des Viertels, am Wilhelmsplatz: Im La Concha herrscht seit 30 Jahren entspannte Lässigkeit, im benachbarten Einstein wird französisches Savoir-vivre gepflegt. Einen Steinwurf weiter, im Il Pomodoro, wandern knusprige Pizzen über den Tresen, während nebenan im Nazar türkische Leckereien auf die Teller kommen. Und noch ein Stück weiter wacht Buddha selbst über das leckere vietnamesiche Essen im Noodle 1. Wahrscheinlich wacht er aber über den ganzen Platz, der vor allem im Sommer zu einem herrlich unverkrampften multikulturellen Open-air-Bereich anschwillt, in dem es sich bestens feiern lässt. Wenn dann der Tag das muntere Viertel wieder hat, geht’s ruhiger zu. Im und auf dem Weg zum Billy’s beispielsweise lässt es sich beim entspannten Lunch prima beobachten, warum Pulver Records-Cheffe Robin Hofmann das Rotlicht-Quartier auch als „sehr sichere Gegend“ schätzt: „Feuerwache 1 in Rufnähe, Polizeihauptquartier vis-à-vis an der Hauptstätter Straße und Miss Jeanie (sehr dunkler Teint, pinkfarbene Lippen, Sonnenbrille, füllige Statur) als Blockwart immer am Leonhards- Platz.“ Mal ehrlich: Was soll da denn noch schiefgehen?
Oliver Seibold

Schreibe einen Kommentar