Helmut Fengler steht vor der Fensterfront des Schulauer Fährhauses in Wedel und blickt nach draußen auf die Elbe. In seiner gebügelten Kapitänsuniform, den blankgeputzten Schuhen und mit dem akkurat zurückgekämmten grauen Haar sieht er aus wie ein echter Seemann. „Von uns sechs Begrüßungskapi­tänen, die hier abwechselnd arbeiten, war nie­mand je zur See“, sagt Fengler. „Kein Wun­der, Seefahrt ist öde“, sagt der junggebliebene 72-Jährige nüchtern und schnappt sich das Mikrophon.

Es ist ein regnerischer Mittwoch. Auf der Terrasse des Fährhauses wuseln zahlreiche Servicekräfte umher und tra­gen Bratkartoffeln und Latte Macchiatos an die Tische. Hin und wieder schieben sich nassge­regnete Touristen durch den schmalen Spalt des zeltähnlichen Eingangs. Hier auf der Ve­randa sind die Worte und Hymnen, die aus den Lautsprechern kommen, am besten zu hören. Sie sind Teil der eigentlichen Attraktion – der einzigartigen Schiffsbegrüßungsanlage.

Täglich von neun Uhr morgens bis zum Sonnenuntergang werden beim Willkomm Höft in Wedel zahlreiche Schiffe beim Einlau­fen und Verlassen Hamburgs mit ihrer Natio­nalhymne begrüßt und verabschiedet. Verant­wortlich dafür sind die Begrüßungskapitäne, zu denen auch Helmut Fengler zählt. In einem winzigen Raum gegenüber der Restaurantkü­che ist sein Arbeitsplatz. Zwischen massiven Eichenmöbeln und alten Technikpulten mit bunt leuchtenden Knöpfen steht er vor einem riesigen Karteikartenregal. „Das sind etwa 16.000 Stück. Darauf sind die wichtigsten In­formationen aller Schiffe verzeichnet, die je­mals in Hamburg waren und noch Wasser un­term Bug haben“, erklärt Fengler mit freundli­chem Blick.

Helmut Fengler ist Rentner. Seit drei Jahren kommt er an fünf Tagen im Monat zum Arbei­ten ins Fährhaus. Für ihn ist der Job ein Zeit­vertreib, keine Passion: „Da ich weder Brief­marken sammle, noch kegeln gehe, musste ich mir eine Beschäftigung suchen.“ Als Wedeler war ihm die Schiffsbegrüßungsanlage vertraut. Bei einem Besuch fragte er nach, ein paar Tage später hatte er den Job. „Ich arbeite gern hier, aber mit Romantik hat das nichts zu tun“, sagt Fengler. Ähnlich nüchtern blickt er auf seine Zeit als Postangestellter zurück. 40 Jahre war er dort, bis er frühzeitig in den Vorruhestand ging. „Der Job hat mich ernährt, mehr nicht“, erklärt der Rentner.

Gelassen lehnt er an seinem Pult. Ein Fax vom Schiffsmeldedienst kündigt das nächste Schiff an. Während er die Karteikarten und Nationalhymnen durchsucht, treten hin und wieder neugierige Touristen ein. Sie bestaunen den Kapitän und seinen außergewöhnlichen Arbeitsplatz. Väter erklären ihren Kindern, was hier passiert. Einige zeigen mit dem Fin­ger auf die drei Bildschirme in der Ecke, ande­re auf das große Kassettenregal mit etwa 150 Nationalhymnen. Eingesetzt werden die staubi­gen Tonträger nur noch im Notfall; heute über­nimmt ein Computer ihre Aufgabe.

Die meisten Besucher wollen wissen, wann das nächste Schiff vorbeikommt. Fengler ant­wortet routiniert und freundlich, doch hin und wieder rollt er mit den Augen. Er mag es, wenn sich Leute ernsthaft interessieren und wissen wollen, wie Dinge funktionieren. Für diejeni­gen, die wenig Zeit mitbringen und nur schnell ein Schiff sehen wollen, hat er wenig Verständ­nis. Aus dem sonst so redefreudigen Rentner wird dann ein kurz angebundener, kesser Kapi­tän.

Als eine gutaussehende, schlanke Frau win­kend an der Fensterfront vorbeigeht, strahlt Fengler über’s ganze Gesicht. Seine Augen leuchten. „Das ist Frauke, meine Frau“, sagt er und zieht die Schultern dabei nach hinten. Frauke ist 70 und sieht, wie auch Helmut Fengler, deutlich jünger aus. „Meine Holde, das ist schon eine flotte Maus“, sagt er stolz. Seit fast 50 Jahren sind die beiden verheiratet. Als sie sich 1963 kennenlernten, wusste er sofort, dass sie die Richtige ist. „Ich habe ihr damals an ei­nem Schießstand auf dem Jahrmarkt eine Rose geschossen. Am Abend habe ich sie dann auf meinem Motorroller mit nach Hause genom­men.“ Während er erzählt, werden seine Augen ein klein wenig feucht.

Ein Schiff fährt vorbei und gibt Signal. Bei­nahe hätte Herr Fengler vergessen, zum Gruß die Hamburger Flagge zu hissen und die Natio­nalhymne zu spielen. „Am liebsten mag ich die italienische Hymne. Die ist so schön be­schwingt“, sagt er. In Italien ist er noch nie ge­wesen. „Wir machen seit 20 Jahren Urlaub in unserem Haus in Dänemark. Da komme ich nicht drum herum“, sagt er und zwinkert mit einem Auge. Seit fünf Jahren fahren Fenglers außerdem nach Andalusien. „Wir mögen eine gewisse Beständigkeit“, gesteht der Senior. „Falls wir in unserem Stammhotel kein Zim­mer bekommen, muss der Urlaub eben ver­schoben werden.“

Die letzten Töne der Nationalhymne ver­klingen. Herr Fengler greift zum Mikrophon: „Meine Damen und Herren, wir begrüßten den unter liberianischer Flagge fahrenden Frachter Eastern Bay – ein Kühlschiff, das uns die Ba­nanen bringt. Es ist 142 Meter lang, 22 Meter breit und mit 17 Knoten unterwegs.“ Er spricht mit tiefer, klarer Stimme. Draußen auf der Ter­rasse halten die Gäste kurz inne, hören zu und schauen auf’s Wasser. Ein paar Kinder stehen in der Tür des Schiffsbegrüßers und beobach­ten ihn aufmerksam.

„Mein Enkel glaubt, dass ich ein echter Ka­pitän bin. Er ist fünf und lässt sich von der Uniform blenden“, sagt Fengler schmunzelnd. Einigen Besuchern des Schulauer Fährhauses geht es genauso, obwohl der adrette Senior of­fen zugibt, kein Kapitän im eigentlichen Sinne zu sein.

Die Seefahrt hat ihn nie gereizt, trotzdem machen Fenglers neuerdings Kreuzfahrt-Ur­laub. „Ich muss das zwar nicht haben, aber meine Frau mag es“, flüstert der 72-Jährige. Nächstes Jahr geht es wieder auf’s Kreuzfahrt­schiff. Und Goldene Hochzeit wird auch gefei­ert. Wo? „Vermutlich in Andalusien“, sagt Fengler nüchtern.