Langsam lässt Töpfer seinen Kombi über das Kopfsteinpflaster der Davidstraße rollen, blickt nach links, nach rechts, alles sieht so anders aus und doch wie früher. Wie ein Faradaykäfig scheint ihn das Auto vor Einschlägen der Erinnerung zu schützen. Fast zwanzig Jahre ist es her, dass er das letzte Mal in St. Pauli war. Jetzt leuchtet die Vormittagssonne jeden Winkel des Viertels aus, das noch den Rausch der letzten Nacht auszuschlafen scheint. Alles ruhig. Nur Peter Töpfer nicht. Mit tiefer, leiser Stimme sagt er: „St.Pauli ist für mich nicht ungefährlich. Auch nach all der Zeit nicht.“ Die Geister der Vergangenheit, ihre Gewalt, ihre Gelüste, sie sind nicht totzukriegen. Doch Töpfer hat den Kampf mit ihnen aufgenommen. Mit Gottes Hilfe. „Der Herr sagt: Die Last, die ich auferlege, ist leicht zu tragen.“ Töpfer kennt sich aus mit Gottes Wort. Der stämmige 62-Jährige mit dem akkuraten Seitenscheitel ist Prediger bei der evangelischfreikirchlichen Glaubensgemeinschaft „Mission Kwasizabantu“. Mehrere Male pro Woche spricht er vor Kirchengemeinden. In Berlin, in Wolfsburg, in der Schweiz – wo immer das Wort Gottes Gehör findet. Im Städtchen Schorndorf bei Stuttgart half er einer Bürgerinitiative, ein Bordell zu verhindern. „Bordelle sind des Teufels“, sagt Töpfer. Er parkt sein Auto in der Davidstraße, zögert einen Augenblick. Dann verlässt er den Faradaykäfig, setzt den Fuß dorthin, wo sein Kiezleben begonnen hatte, damals, in den Sechzigern.

Vor der Eckkneipe Anker am Eingang der Herbertstraße zeigt er auf die Fensterchen im ersten Stock. „Hier, direkt über dem Anker, hab ich 1975 mein erstes Bordell eröffnet.“ Als Zuhälter wird man nicht geboren, zum Zuhälter wird man gemacht. Alle sagen sie das auf St. Pauli, die großen Fische und die kleinen. Töpfer tummelte sich irgendwo dazwischen, irgendwann. Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er in Meßkirch geboren, im hügeligen Niemandsland zwischen Donau und Bodensee. Seine Mutter hörte Volksmusik. Er wollte ein Rock’n’Roll-Leben. Als er volljährig wurde, floh Töpfer nach Hamburg und heuerte bei der Handelsmarine an. Er sah als Matrose die Welt – und wenn er sie bei Landgängen unter die Füße bekam, verprasste er seinen Sold in den Kneipen. Auf seinen vielen Dienstreisen nach Südamerika lernte Töpfer Spanisch. Genau einen Ausdruck: „Pastillas contra dolor de cabeza“ – Kopfschmerztabletten. Immer wieder kehrte er nach Hamburg zurück, wurde Stück für Stück von St. Pauli aufgesogen.

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Bald stand er selbst hinterm Kneipentresen. Schenkte Schnaps aus. Und zog die Kunden, so gut es ging, über den Tisch. „Istanbul hieß diese Kneipe, da ging alles los“, sagt Töpfer vor der Spelunke, die heute „Pils-Börse“ heißt und vor der abends immer noch die Frauen Spalier stehen. „Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis ich ein, zwei, drei Prostituierte hatte.“ Er wurde zum Luden. Bis zu tausend Mark brachte ihm eine Hure ein. Pro Tag. Nach einigen Jahren mietete sich Töpfer im Eros-Center ein – damals das größte Bordell Europas. Willi Bartels, der „König von St. Pauli“, hatte es mit dem Segen der Hamburger Stadtväter hochgezogen. Heute heißt das Eros-Center „Paradise Point of Sex“. Auf dem Weg dahin kommt Töpfer an weiteren Stationen seines früheren Lebens vorbei: Clubs, Diskotheken – „ideale Orte, um frische Mädchen für den Strich zu rekrutieren“. An der Ecke zur Großen Freiheit biegt er durch eine dunkle Unterführung in einen Innenhof. „Das hier war der Kontakthof“, sagt er. Hier warteten früher seine Frauen auf Freier, um sie dann auf eines der 200 Zimmer mitzunehmen. Mitte der Siebziger schloss sich Töpfer mit anderen Zuhältern zur berüchtigten Nutella-Bande zusammen: rund zehn Männer, für die mehr als hundert Huren anschafften. Töpfer investierte sein schnelles Geld in schnelle Autos, in Luxusreisen und Goldschmuck, gönnte sich einen Cadillac Eldorado, ein endlos langes, stolzes Straßenschlachtschiff. Jetzt war er nicht mehr Matrose. Jetzt war er Kapitän.

Die siebziger Jahre verflogen wie im Rausch. Der Geldstrom aus den Bordellen schien unerschöpflich. Das englische Boulevardblatt „Daily Mirror“ kürte St.Pauli zur „Sex-Hauptstadt der Welt.“ Töpfer und seine Kumpane waren ihre Kämmerer. Fast täglich trafen sie sich im Café Adler der Kiezgröße Dieter Bockhorn und dessen Freundin, dem Model Uschi Obermaier. Es wurde gekifft und gekokst, die Zeit dazwischen überbrückten Cognac und Klarer. Sonntagmorgens fanden in dem Café Gottesdienste statt, zu denen sich Dealer und Zuhälter versammelten. Die Predigten hielt ein blonder, langhaariger Jesus-Hippie. Meist war er ebenso breit wie seine Zuhörer. Anfang der Achtziger hatte der Kiez einen Kater. Bisher waren Geschäfte und Meinungsverschiedenheiten mal mit Geld, mal mit den Fäusten geregelt worden. Der Kiezkodex war heilig gewesen: „Kein Verrat an die Bullen! Keine Waffen!“ Vorbei. Im September 1981 wurde St. Pauli von Schüssen erschüttert. Der Zuhälter Fritz Schröder, „Chinesen-Fritz“, verblutete im Boxlokal Ritze. Töpfer, der Chinesen-Fritz gut kannte, traf Vorkehrungen. „Vorsicht bei Festnahme – Schusswaffengebrauch!“, stand in seiner Polizeiakte. Töpfer kam in eine Sinnkrise. Ist es das wert? Was hat Wert? Er stellte sein Leben infrage, zum ersten Mal.

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1981, zwei Jahre, nachdem die Polizei das Café Adler nach einigen Drogenrazzien geschlossen hatte, traf Töpfer auf der Straße den blonden Hippie-Prediger wieder. Aber den Hippie- Prediger gab es nicht mehr: Er hatte jetzt kurze Haare, trug einen Anzug, er brauche keine Drogen mehr, sagte er, er brauche nur noch Jesus, der habe im Übrigen unlängst zu ihm gesprochen, in Südafrika, bei der christlichen Mission Kwasizabantu. „Ach du Scheiße!“, dachte Töpfer. Jesus hat zu ihm gesprochen. „Jetzt ham sie ihn fertig gemacht!“ Doch Töpfer, selbst auf Sinnsuche, war auch fasziniert. Und war er nicht schon für so vieles offen gewesen? Er ließ sich zum Besuch eines Gottesdienstes überreden. Mit aufgeknöpftem Hemd, um den Hals eine üppige Goldkette, lauschte er den Worten des Predigers, der von Gier sprach und Hass und Hurerei. Töpfer war elektrisiert. Er dachte: „Wer hat denn dem mein Leben erzählt?“ Danach war seine Sehnsucht nach dem Schlussstrich nicht mehr zu stillen, nicht durch Alkohol, nicht durch Drogen. Er trennte sich von seinen Bordellen. Verabschiedete sich von seinen „Nutella“-Kumpanen. Die wollten ihn in den Urlaub schicken, er solle sich erholen, auf Hawaii. Doch er wollte keinen Urlaub von seinem alten Leben. Er wollte ein neues Leben. Töpfer eröffnete einen Gebrauchtmöbelladen in Altona. Er besuchte Bibelkreise und heiratete seine Freundin, mit der er ein kleines Kind hatte.

Sein neues Leben war zwei Jahre alt, da hatte er während eines Gottesdienstes „das größte Erlebnis überhaupt“. Töpfers Stimme wird lauter, als er davon berichtet. „Mein ganzes Leben stand mir vor Augen. Ich war so erschrocken!“ Er macht eine beschwörende Geste. „Meine Sünden waren so grausam! Ich spürte auf meinen Schultern einen Sack, der immer schwerer wurde. Ich bin aufs Gesicht gefallen und habe bitterlich geweint. Um mich war es stockdunkel. Ich lag da und dachte: Jetzt musst du sterben.“ Da hörte er eine Stimme. Der Gemeindeleiter kniete neben ihm und las aus der Bibel vor. All jene Stellen, in denen es um die Vergebung der Sünden geht. „Ich hörte das. Und spürte, wie meine Schultern leichter wurden. Es wurde taghell.“ Töpfer spreizt die Finger, blickt mit blitzenden Augen zwischen ihnen hervor. „Da wusste ich: Jetzt hat Gott dir vergeben.“ „Nie wieder zurück!“, sagte er sich damals. Töpfer wollte den Weg zu Gott gehen. Seine Frau aber, „die liebte das Leben“. Seine radikale Frömmigkeit verstörte sie. Sie ließ sich scheiden, nahm die Tochter mit. Töpfer blieb zurück. Allein, mit Gott. „Denn ich sagte mir: Gott hat dir das Leben gerettet.“ Wie recht er damit haben sollte, erfuhr er schon bald aus der Zeitung und dem Fernsehen. Insgesamt ließen in den achtziger Jahren mehr als zwei Dutzend von Töpfers Bekannten ihr Leben. Keiner starb einen natürlichen Tod. „Mord, Selbstmord, Drogen, Aids“, zählt er auf. Als Töpfer wieder in seinem dunkelblauen Kombi sitzt, sinkt er in sich zusammen und schließt die Augen. Er betet. „Bitte Herr, sei du weiter mit mir! Amen.“

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Dann startet er den Motor. Fahrtziel: Haus Druhwald, eine Wald-Wohnsiedlung eine halbe Autobahnstunde südlich von Hamburg. Die Norddeutschland-Zentrale der Mission Kwasizabantu. Das Zuhause seines neuen Lebens. Der letzte Schritt in dieses Leben bestand darin, „Dinge in Ordnung zu bringen“, erzählt Töpfer auf der Fahrt: „Ich bin zu den Menschen gegangen, denen ich Böses getan hatte, und bat sie um Vergebung.“ Alle hätten sie ihm vergeben, sagt er. Ein Kiezkollege, der ihn hatte umbringen wollen; die Eltern der Mädchen, die er in die Prostitution gelockt hatte; Betrogene, die noch gar nichts von Töpfers Betrug gewusst hatten. Selbst jene Frau, die Töpfers Tun nie vergessen konnte. Er hatte sie als Jugendlicher im Alkoholrausch vergewaltigt.

Der Mittelpunkt von Töpfers neuem Leben liegt auf einer Lichtung zwischen dicht stehenden Buchen, Birken und Fichten. Klinkerhäuser, ein Hühnerstall, eine Halle für Gottesdienste, ein von rostigem Maschendraht umgrenzter Bolzplatz. Es ist atemberaubend still. Acht Familien leben ständig in Druhwald. Und Peter Töpfer. Nie wieder zurück! In Töpfers Wohnung gibt es nichts, was an die Zeit vor seinem Leben als Laienprediger erinnert. Nur ein vergilbter Führerschein von 1977, versteckt in einer Schublade, hat die Zeitenwende überdauert. Auf dem Wohnzimmertisch eine blumenbestickte Tischdecke. An den Wänden Aquarelle. Von Landschaften, Bauernhäusern, Bäumen. Hochzeitsfotos seiner Kwasizabantu- Brüder und -Schwestern. Auch ein Foto vom Gottesdienst der Glaubensmission in Südafrika. Fast jedes Jahr fliegt Töpfer nun nach Afrika. Er hat Zulu gelernt. Genau einen Ausdruck: „yabonga“ – danke schön.

Text: Markus Wanzeck