Im Jakubowski schallt Gutelaune- Musik aus den Boxen, durch die breite Fensterfront scheint die Sonne in das gemütliche Café mit dem Himmelfresko an der Decke. An einem Tisch ganz hinten sitzt – ebenfalls gut drauf – Schauspielerin Julia Beerhold alias Karin Radke aus der Kölschen Traditionsserie „Die Anrheiner“. Vier Jahre hat sie pausiert, jetzt ist sie ans Set im Mülheimer Hafen zurückgekehrt und stellt fest: Das Viertel hat sich verändert. „Es gibt ein paar wirklich schicke Läden, die auch gut nach Berlin passen würden.“ Das Jakubowski ist dafür ein Beispiel, das Café Vreiheit direkt um die Ecke ein weiteres. Beide passen gut in die Gegend um die Mülheimer Freiheit mit ihren schönen Altbauten. Aber das Veedel kann auch anders, so Julia Beerhold: „Mülheim hat zwei Gesichter. Es gibt total hübsche Ecken, aber auch furchtbar hässliche.“

Der triste Wiener Platz gehört zur letztgenannten Kategorie. Eingerahmt wird er vom Clevischen Ring, auf dem sich unablässig der Verkehr gen Autobahn wälzt, sowie von der Frankfurter Straße, die so viel Charme verbreitet, wie es eine Aneinanderreihung von Ein-Euro-Läden, Drogerieketten und Fastfood-Läden eben zulässt. Nicht gerade wohnlich, meint Rob Zalisz vom Tattooshop Elektrische Tätowierungen: „Mülheim kann echt schlimm sein, abgesehen vom Rhein, der ist hier richtig schön.“ Seine Chefin – und Mutter – Anke schätzt noch etwas anderes an ihrem Veedel: „In Mülheim herrscht eine hohe Toleranz. Es muss schon einiges passieren, bevor sich jemand gestört fühlt.“ Klingt nach idealen Voraussetzungen für Künstler, die in Mülheim in der Tat haufenweise zu finden sind. Kreativer Knotenpunkt ist das KunstWerk. Mehr als 150 Menschen arbeiten in den Atelierhäusern, die früher zu einer Gummifädenfabrik gehörten. Alte Backsteingebäude wie diese lassen bis heute die Prägung Mülheims als Industrie- und Arbeiterviertel erkennen. Nicht alle werden genutzt, viele dümpeln langsam in Richtung Verfall.

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Das Designerduo Christine Birkhoven und Peter Kruppa mag den schrägen Charme der alten Fabrikhallen.“Die Arbeitsatmosphäre ist besonders, es liegt Kreativität in der Luft“, schwärmt Kruppa. Niemand stört es, wenn die beiden für ihr Bandprojekt „app1901“ proben – an laute Musik sind die KunstWerkler gewöhnt, schließlich ist das benachbarte Gebäude 9 ein beliebtes Venue für angesagte Partys und Konzerte. Gastronomisch blüht Mülheim zwar nur allmählich, dafür stetig auf. Wenn der kleine Hunger kommt, geht man in die Keupstraße – im Volksmund schlicht Fressmeile genannt. Die Straße ist fest in türkischer Hand: Baklava, Börek und Döner gibt es „to go“ oder im edleren Gewand in den Restaurants Mevlana und Kervansaray. Gut gefüttert, kann man von hier aus in die angrenzende Schanzenstraße und die Welt des Showbiz aufbrechen. Dort wird neben TV Total auch Schmidt & Pocher produziert, nebenan im E-Werk und Palladium gastieren regelmäßig internationale Top-Acts. Stars und Glamour bestimmen in Mülheim jedoch nicht den Alltag. Im Gegenteil: Mehr als 13 Prozent der 40 800 Einwohner sind arbeitslos, jeder zweite lebt von Arbeitslosengeld II.

Der hohe Ausländeranteil von 45 Prozent stellt die Integrationsarbeit im Veedel auf eine harte Probe. „Mülheim ist ein sozialer Brennpunkt“, sagt Veronika Leuchter, Sozialarbeiterin im Bürgerzentrum MüTZe. Doch aus ihrer täglichen Arbeit weiß sie: „Der Stadtteil ist lebendig, kulturell passiert hier eine Menge.“ Und: Mülheim ist auf dem Sprung zum In-Viertel, glaubt Hans Jörg Depel vom Mietverein Köln. Noch sei die Gegend als eher günstiges Wohnviertel bekannt, eine 60-Quadratmeter-Altbauwohnung bekomme man ab 550 Euro kalt. Aber: „Der Stadtteil verliert seinen Charakter als Arbeiterviertel. In den Fabrikgebäuden entstehen edle Loftwohnungen.“ Laut Depel gibt es in Mülheim im Überfluss, was anderen Veedeln fehlt: Platz. Mit seinen sieben Quadratkilometern ist dieser Stadtteil immerhin doppelt so groß wie Ehrenfeld. Bis das – ähnlich wie beim Nachbarn Deutz – Begehrlichkeiten bei Investoren weckt, ist es wohl nur eine Frage der Zeit.

Susanne Theisen